Hochverehrte Kulturbegeisterte,
hier nun die von euch sehnlich erwartete erste Leseprobe aus
„…als mein Wahn deine Realität schluckte (3 Wege ins Chaos und wieder zurück)“.
Der nun folgende Ausschnitt stammt aus „Der
Sieg“, der ersten Geschichte im Buch.
Viel Spaß beim Stöbern und danke für’s Lesen.
Es salutiert,
S.
---
… hielt meinen Mund geschlossen, biss mir die Lippen blutig
in der Hoffnung, kein einziges Wort würde mir entschlüpfen. Ich hätte mir am
liebsten die Zunge herausgerissen, sie mit einem stumpfen Messer abgeschnitten,
nein, eher bis zum Unterkieferknochen abgetrennt oder die Hände zu Fäusten
geballt und sie mir mehrmals in den Mund gerammt, aber sie standen mir ja nicht
zur Verfügung. Mein Hirn erwachte, durch all den Wahn und Irrsinn hindurch,
erneut zum Leben. >>Tu es nicht!<<, befahl ich mir selbst und der
Zwang, einen verhältnismäßig klaren Kopf zu bewahren, gewann die Oberhand. Die
Wände hatten mich mittlerweile vollkommen eingekreist, sie wankten um mich
herum, jeweils dreihandbreit entfernt. Mörtel, Putz und Steine fielen nicht
mehr nur ausschließlich neben mir zu Boden, nein, sie erschlugen mich um ein
Haar. Sie schmissen sich auf meinen Kopf und meine Beine, zertrümmerten die
Kniegelenke, krachten auf meinen Beckenknochen, brachen mir durch die
Einschläge sämtliche Rippen und meine Atmung versagte wiederholt. Ich wusste
nicht mehr, wo ich die Kraft hernehmen sollte, die ich nun zum Luftholen
benötigte. Bei jedem Atemzug, den ich von nun an tat, rann Blut aus meinem Mund
und ein leises, schleifendes Pfeifen ertönte aus meinen Lungen beim Einatmen.
Die Pfütze, warm und dunkelrot, die unter meinem geschundenen Schädel
hervorquoll, versprach mir wortlos das Ende meines Leidens und mein baldiges
endgültiges Ableben. Der entstandene Staub, der in der Luft hing, drang in
meine Ohren und raubte mir so diesen Sinn auch noch. Meine Angst war an einem
Punkt angelangt, wo sie sich nicht mehr bedeutend steigern ließ. Mein Puls
überschlug sich und war daher nicht mehr messbar, meine Blutkörperchen rasten
mit Lichtgeschwindigkeit durch meine Venen und polierten sie blank wie
Edelstahl. Mein eigenes Verderben hätte sich darin spiegeln können. Der vor
Verkrampfung zuckende Muskel, der einst mein starkes und von Mitgefühl
erfülltes Herz gewesen war, leistete Unglaubliches. Es hämmerte von innen gegen
meinen Brustkorb, ungezähmt und aufgebracht, wie ein Raubtier in
Gefangenschaft, das um seine Freiheit kämpfte und sich dafür selbst Wunden
zufügen würde.
Die Stimme, die mir all dies Schreckliche prophezeit hatte,
kehrte nun zum letzten Mal zu mir zurück. Sie schien überall zu sein. Die
Worte, die sie mir entgegenrief, prallten von den Wänden ab, durchstreiften den
geschrumpften Raum und ihr Klang vermischte sich mit der Schwärze, die immer
noch am Mauerwerk und von der Zimmerdecke hing. „Mach die Augen auf!“, befahl
sie mir. Ich versuchte, sie zu überhören. All meine Empfindungen, die sich an
meine Seele klammerten, erlaubten mir nicht, übermenschlichen Mut zu beweisen
und diesen Schritt zu wagen. „Mach die Augen auf und sieh die Welt, die du für
dich geschaffen hast! Mach sie endlich auf und erkenne die Wahrheit! Du bist im
eigentlichen Sinne kein Opfer. Du bist nicht die einzige Kreatur auf Erden, der
so etwas geschieht, also nichts Besonderes! Du bist nur ein Mensch, durch die
Zustände auf diesem Planeten in den Wahnsinn getrieben! Du kannst nichts dafür!
Du bist eben nur ein Mensch und die Menschen waren schon immer schwach!
Aufgeben wäre in deiner Lage das, was noch von Vernunft zeugen würde! Ruf sie
herbei, bevor es zu spät ist! Es ist ihre gottverdammte Pflicht, dich vor
jeglichen Übergriffen zu beschützen, sogar vor dir selbst! Also rufe sie! Nur
ein Hilferuf! Schrei es heraus und dann schrei es ihnen in ihre verzerrten
Gesichter, was mit dieser Welt nicht stimmt! Hole sie aus ihrem Tiefschlaf,
stoße sie aus dem zombiehaften Albtraum, in dem sie so lange vor sich hin
vegetierten! Öffne ihnen und dir selbst die verblendeten Augen! Lass dich
selbst und sie erkennen, was dir diese ach so zivilisierte Gesellschaft angetan
hat! Schrei es heraus: Ich gebe auf!“
Irgendwo tief in mir spürte ich, dass die Stimme Recht
hatte. Ganz gleich, was sie mir noch in die fast tauben Ohren schreien würde,
sie hatte Recht. Die Erkenntnis, warum aufgeben trotzdem keine Lösung war,
legte sich aber sofort wie zehn Zentner Steine auf meine schmalen Schultern und
kampfunwillig erduldete ich das Gewicht, als sei ich nichts anderes gewohnt.
Mein Mund, gefüllt mit dem Blut meiner Lungen, sprang urplötzlich auf. Der
Anblick erinnerte an eine klaffende Wunde. Die Wände hielten abrupt an. Die
Stimme, die Wahrheit heraus schreiend und allmählich der Verzweifelung nahe,
da, wie sie glaubte, ich ihre gute Absicht nie begreifen würde, verstummte und
der Raum zerbrach fast unter dieser Totenstille. Die dunklen Schleier verzogen
sich ins Nirgendwo, die eisige Kälte tat es ihnen gleich. Das Licht und die
Farben kehrten abermals zurück und durch meine geschlossenen Augen drangen
grelle Strahlen und reizten mein Bindehautgewebe. Alles um mich herum schien zu
erwarten, dass ich, bevor ich an meinem eigenen Blut und Körpersekret
erstickte, den lang erwarteten, erlösenden Satz aussprach, um mich zu retten.
Doch mein Mund schloss sich wieder bis auf einen minimalen Spalt. So lag ich
da, verloren, mutterseelenallein, von Staub, Steinen und Blutstropfen übersät,
immer noch in einer schutzsuchenden Stellung. Meine rissigen Lippen begannen
selbstständig Worte zu formen, die stumm durch das Zimmer krochen. Nur mein
Blut und meine Luftröhre erzeugten wage, fast lautlose Töne. Es bildeten sich
bei den Sprechversuchen kleine Blasen, die beinahe unhörbar zerplatzten und
Erstickungslaute bahnten sich ihren Weg aus meinem Hals.
An diesem Spätnachmittag verstummte ich und ich hatte auch
jetzt noch nicht das Bedürfnis, meine Sprache wieder zu finden. Nur aus einem
Grund hätte ich vielleicht mein Schweigen brechen wollen. Wenn auch nur die
geringste Chance bestehen würde, so meine entstellten und aufgelösten
Gliedmaßen wieder der Macht entreißen zu können, die sie mir genommen hat.
>>Könnte es geschehen, wenn ich mich beuge?<<, dachte ich bei mir
und stellte fest, dass in diesem Moment bereits alle Hoffnung von mir wich und
dass der kleine Rest Würde in mir elend und in Schande starb. >>Könnte
ich wieder einem humanen Wesen ähneln oder würde ich zu einem Menschen mutieren,
weil ich diesen Zustand mittlerweile für ein krankes und erbärmliches Dasein
halte? Oder bin ich bereits wieder an dem Punkt angelangt, wo ich mich nach
Normalität und der heilen Welt sehne?<< Jede Zelle in mir, die einen
Ausweg aus diesem Dilemma suchte, wollte nicht länger unterdrückt und
kontrolliert werden. Sollten tatsächlich sprachähnliche Laute über meine Lippen
kommen, dann müsste ich es wohl oder übel zulassen. Mir war es gleich. Sollte
mein Körper doch das tun, was er wollte. Das tat er ungefragt ja schließlich
schon seit endloser Zeit. Mein Mund öffnete sich erneut. Meine Stimmbänder
dehnten sich und verlangten danach, Zeugnis abzulegen. Und, dem Herrn sei Dank,
mein Geist fand einen Weg, um meinen Körper wiederholt zu beeinflussen und dieses
Mal auf eine Art und Weise, wie ich es mir erträumt hätte und wofür ich die
ganze Zeit so unerbittlich kämpfte.
Der Mund geöffnet, die Stimmbänder bereit, alles, bis an die
vermeintlichen Grenzen des bekannten Sonnensystems, hinaus zu schreien, was sie
hergaben. Worte tanzten ungeduldig auf meiner Zunge. Sie klammerten sich an
meine Lippen und glitten von ihnen ab wie Regentropfen von gesättigtem Laub.
Ein Schrei steckte irgendwo in meiner Kehle fest und fand den Weg nicht, der in
die ersehnte Freiheit führte. Er stolperte leicht vor und zurück und mit der
letzten Kraft, die mir noch innewohnte, schmetterte ich ihn heraus, damit er
der verhassten Realität meinen Namen ins Angesicht schneiden konnte. Ein
übermächtiges und verzerrtes „Genug!“ hallte durch den Raum. Ich dachte nicht
mehr daran, dass sie, die in der Vergangenheit jeden meiner Schritte belauert
hatten, mich hören würden. Mein Verstand schaltete automatisch, wie
ferngesteuert, zum allerletzten Mal auf Hochbetrieb. Hirnsprünge entstanden, die
seinesgleichen suchten und wie ich sie niemals für möglich gehalten hätte. Die
Worte vermehrten sich und mein Mund konnte sie nicht länger bei sich behalten.
Jetzt war ich es, ein Mensch, der den Wänden, den Schatten, der Kälte, ja
selbst der prophetischen Stimme eine Heidenangst und das Gefühl, versagt zu
haben, in die nicht vorhandene Seele drücken konnte. Meine Mundwinkel zogen
sich in die Höhe und mein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze. Mir kam ein
Gedanke, der mich lächeln ließ. >>Sage die Wahrheit und beschäme den
Teufel.<< Das war es. Ja, das wollte ich tun und dann ergoss sich ein
Wortschwall auf die Dielen, der sich anscheinend nie wieder aufhalten ließ…